Das Jazztreiben in der Alpenregion war schon immer einer der heimlichen Schwerpunkte der Inntöne. In diesem Jahr stellt das Festival drei höchst unterschiedliche musikalische Verarbeitungsweisen einer biographischen Prägung im Schatten der Berge vor.
Man muss nicht, man kann. Es ist nicht verboten. Man darf Musik spielen, aus der sofort der Ruf des Senners hervor springt. Die nach Alphorn klingt und nach Kuhglocke oder ganz allgemein nach der krachenden Folklore, die man für alpin hält, oder die es auch ist. Verboten ist das nicht, und schon gar nicht ist es das im Innviertel, unweit der bayerischen Grenze in Österreich, mitten im Alpinland also. Und im Jazz? Genauso wenig verboten. Auch wenn Paul Zauner, dem Leiter der Inntöne, dem außergewöhnlichen Jazzfestival auf seinem über 100 Jahre alten Buchmannhof bei Diersbach, ausweislich seiner eigenen Aufnahmen eher der blaugetränkte Sound Harlems an der Wiege geklungen zu haben scheint, zählen Bands, die alpenländische Folklore zu ihren Inspirationsquellen zählen, seit jeher zum Programm des Festivals. Das liegt einerseits an Zauners Verbundenheit mit den Musikern aus der Nachbarschaft, aus den alpinen und voralpinen Regionen Österreichs, Deutschlands, der Schweiz und Norditaliens und nicht zu allerletzt daran, dass in diesen Regionen viele der interessantesten Musiker Europas auf die ein oder andere Weise verwurzelt sind
Unter den Musikern der deutschsprachigen Jazzszene hat sich kaum einer so intensiv mit seinen musikalischen Kindheitserinnerungen an das Alpenland befasst wie der Trompeter Matthias Schriefl. Geboren 1981 im Allgäu, legte er eine Blitzkarriere auf der akademischen Jazzlaufbahn hin, Bundessieger bei „Jugend musiziert“ mit 11, im Bundesjugendjazzorchester, der deutschen Jazz-Kaderschmiede mit 15, mit 17 Bundessieger bei „Jugend jazzt“, bald folgte die erste Plattenveröffentlichung. Dann der Umzug zum Studium nach Köln, Gast-Engagements in den Bigbands von WDR und auch NDR, und irgendwann war klar, Schriefl gehört zu den herausragenden Trompetern des europäischen Jazz, und all das, was er für die akademische Jazzlaufbahn gelernt hatte, verliert zunehmend an Relevanz. Als Komponist versuchte sich Schriefl daran, die starren Strukturen, die man mit Jazz zu verbinden gewohnt ist, aufzubrechen und seiner Musik eine Dringlichkeit zu geben, wie sie der Punk einmal hatte. In den letzten Jahren beschäftigt Schriefl sich intensiv mit der Musik seiner ersten Heimat, mit den Ländlern und Walzern, Polkas und Märschen aus dem Alpenraum, die zunächst an Zwecke wie das Tanzen, das Einschlafen, das Verliebtsein, an Freude, Trauer und Feier gebunden waren und in den Zeiten vor den volkstümelnden Musiklehrern und ihren Nachfolgern in den Musikantenstadln – ganz ähnlich wie im Ursprung der Jazz – auf der Basis relativ simpler Strukturen häufig frei improvisierend zum Leben gespielt wurden. Und wie im Jazz ist auch in dieser Folklore schon seit langer Zeit ein Virtuosentum entstanden, für das der hochprozentige Trompeten- und Blechblas-Virtuose Schriefl ganz genau der Richtige ist. Bei den Inntönen 2014 spielt Schriefl wie schon im letzten Jahr ein Programm mit der Unterbiberger Hofmusik, einer volksmusikalischen Hof-Banda aus der Münchner Vorstadt, die Irene und Franz-Xaver Himpsl, eine Musiklehrerin und ein klassischer Trompeter, vor gut zehn Jahren gründeten, um von Seiten der Folklore aus auf ähnlich hohem technischen Niveau den Schriefls Kurs entgegen gesetzten, hin zur Kooperation mit Jazzmusikern zu steuern. Es hat etwas von Kernschmelze, wenn die musikalischen Energien von Schriefl und den Himpsls ungebremst auf einander treffen, es wird jede Menge Energie freigesetzt: das jedoch ohne jede zerstörerische Wirkung.
Musikalisch eher beim jungen Schriefl, soziokulturell aber eher bei den Himpsls ist die Jeremias Flickschuster Jazzband aus Vilshofen zuhause, ein Treibhaus des niederbairischen Kulturlebens seit 5 Jahrzehnten. Was einst, in den selbst in der „kleinen Dreiflüssestadt“ wilden 60ern, als eine Skiffle Band auf selbstgebauten Krachinstrumenten, Waschbretten, Zigarrenkistenbass und schlimmen Tröten begann, hat sich nach der offiziellen Bandgründung 1965 und erst recht, nachdem der Pianist Bert Umminger zwei Jahre später die Leitung der Band übernommen hatte, schnell in Richtung einer traditionell orientierten Jazz-Bigband entwickelt, hin zum Dixie, weiter zum Swing, zu den Standards und immer weiter. Nebenher arbeiteten die Flickschusters zielstrebig daran, dass ihr Jazz nicht der einzige blieb, den man an der Donau zu hören bekam, Musiker aus der Band wirkten als treibende Kraft hinter einer Initiative, die zunächst vereinzelte Jazzkonzerte und später ein ausgewachsenes Festival in Vilshofen veranstaltete und Niederbayern an die Moderne des Jazz anschloss. Natürlich färbte das wiederum auf die Musik der Jeremias Flickschuster Jazzband ab, die Reinheitsgebote eines rein traditionellen Jazz waren schon bald Vergangenheit. Umminger hatte einen hohen Anspruch in die Flickschusterband implantiert, und er hatte es eilig, im Hier und Jetzt, also in St. Pig’s Pub auf Paul Zauners Hof bei den Inntönen, anzukommen. Da sind sie nun, leicht angegraut, doch agil und spielfreudig wie eh und je. Hätte es einen Jeremias Flickschuster jenseits der überquellenden Fantasie der Band je gegeben, er wäre lange vergessen, denn die Band hat ein eigenes Profil entwickelt, das quer steht zu allen stilistischen Schubladen, aber mit Spielfreude und Enthusiasmus das kleine Manko, dass es sich hier um eine Liebhaberei von Amateuren handelt in einen großen Vorsprung an Unmittelbarkeit und Charme verwandelt.
Im Strauß der Bands mit einem alpenländischen Hintergrund im diesjährigen Inntöne-Programm hält das Wiener Trio „Interzone“ um den jungen Trompeter Mario Rom den weitesten Abstand von Alpenfolklore und vordergründigen Reminiszenzen an die natürlichen Klangwelten Österreichs. Wie bei den Flickschustern ist auch hier der Bandname Programm: Interzone, benannt nach dem ekstatischen Prosakonvolut, das William S. Burroughs während seiner Zeit in Tanger anfertigte und das in seiner sprudelnden Sinnlichkeit offenbar Modell stand für dieses Trio. Wo Burroughs die Verstörung der entwurzelten Tanger-Boheme der fünfziger Jahre umkreist, nutzen Mario Rom, der entschlossen daherschreitende Kontrabassist Lukas Kranzelbinder und der Schlagzeuger Herbert Pirker die Chance, die in ihrer Jugend und der großen Entfernung zum Epizentrum des Jazz steckt: Nothing is True, so lautet ein Titel auf ihrem Debütalbum, und das ist wortwörtlich gemeint, in der künstlerischen Zwischenwelt des Tanger von damals und des Wien von heute, ist nichts wahr, aber alles scheint erlaubt zu sein. Unbekümmert und ungestüm fräsen sich die drei Musiker ihre Bahn, räumen alle stilistischen Wegweiser zur Seite, swingen, grooven, nehmen abrupt Tempo aus der Bewegung, kurz: spielen, wie es ihnen die Energie gerade einflüstert. Schließlich landen sie dann doch wieder bei der Melodie, drehen sie, wenden sie, treten aufs Gas und fügen ihr Schrunden und Wunden zu – mit solch ruppiger Behandlung ringen sie ihrer Schönheit eine ungeahnte Reinheit und Wahrhaftigkeit ab.
So unterschiedlich die Musik der drei alpenländlichen Bands bei den Inntönen im Resultat ausfallen wird, hat sie doch in der ungebrochenen Spielfreude, in der Überzeugung, sich nicht durch außermusikalische oder stilistische Reglements einengen zu lassen, ihre gemeinsamen Grundzüge. Offenbar sind die Alpen doch eine Region, die - aus welchem Grund auch immer – genau die eigensinnigen Persönlichkeiten hervor bringt, die es braucht, über die Nachmachphase hinaus zu wachsen und eine Musik zu entwickeln, die eigen ist und wert, gehört zu werden.
Stefan Hentz