Noch vor dem Song kam der Gesang. Eine Stimme, einfach so, direkt aus dem Körper, moduliert von den Stimmbändern und den willkürlichen wie unwillkürlichen Anpassungen der verschiedenen Resonanzräume in Brust und Bauch, Kehle und Kopf. Eine Stimme, die Töne erzeugte, wiederkehrende Töne, Tonfolgen, dazu ein Beat vielleicht auf einem ausgehöhlten Kürbis, einem Baumstamm, irgendeinem Hohlkörper, und schon war aus Nichts und einem bisschen Improvisation Musik entstanden. Andere hörten zu, spielten mit, und eines kam zum anderen. Rhythmus und Melodie, Spaß und Gefühl, Trance und Transzendenz. Als viele Jahrhunderte später die Nachfahren von ihrer Heimat entrissenen Teilhabern der afrikanischen Musikkulturen als Sklaven in der amerikanischen Diaspora ihre ersten Gesänge anstimmten, mussten sie das, was ihnen von der Überlieferung geblieben war, mit dem verbinden, was sie auf dem von weißen Kolonisatoren dominierten Kontinent vorfanden, mit abgerissenen, verschlissenen Volksliedern von den britischen Inseln und anderen Regionen Europas, mit den Chorälen der protestantischen Kirchen, mit den Tonalitäten der europäischen Kunstmusik. Sie taten dies mit Begeisterung, denn das Singen als solches tat gut. Das Resultat war vielgestaltig, es umfasste die rhythmischen Worksongs, die den Takt der Arbeit aufgriffen und unterstützten, den mächtigen Chorgesang aus den Kirchen, die populären Lieder von hier und dort und brachte all das mit den ebenso vielgestaltigen Rhythmen, die ihren Weg in die Südstaaten Nordamerikas gefunden hatten zur Reaktion.
Noch immer waren in dieser Vokalmusik die Schreie und der Jammer zu hören, die ferne Erinnerung an das erlittene oder ererbte Leid und sogleich die Rebellion und die sanften Schwingungen des Überlebens, Sinnlichkeit und Lebensfreude, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und neben das Repertoire, das sich so stetig erweiterte, wie hoffnungsfrohe neue Einwanderer in die USA strömten, entwickelten ihren eigenen Fundus an Gesangsstücken, den Blues, und ihre eigene Art, aus dem Blues musikalische Welterzählungen zu schaffen: den Jazz, eine überwiegend instrumentale Musik.
Doch auch Nebenrollen zählen - mittlerweile hat Gesang es auch im Jazz zu beachtlicher Prominenz gebracht. In relativer Nähe zum erwachsenen Pop hat er sich als ein Marktsegment etabliert, das relativ unabhängig von den überlieferten Kraftquellen und den Entwicklungsprozessen des aktuellen Jazz im Rhythmus der wechselnden Gezeiten der Mode mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit anzieht. Nat King Cole und Frank Sinatra, Sade Adu und Michael Bublé sind Beispiel für solche Flutwellen des vokalen Jazzpop, die - spätestens seit Diana Krall oder Norah Jones Jazz auch für das breite Radiopublikum sexy machten - für viele Hörer das Bild des Jazz prägen: Sänger und Sängerinnen, die Jazz als einen klar definierten Stil auffassen, der sich – das nötige Können vorausgesetzt - ohne weiteres reproduzieren lässt. „Jazz“ als eine musikalische Marke, eine nostalgische Projektion: Licht aus, blauer Rauch, die Zigarette lässig in der Spitze. L.A., Fünfziger Jahre, die Filme der Schwarzen Serie. Tief geschnittene, enge Kleider, üppige Haare, häufig blond, Glanz und Gloria. Und die Musik? Klingt immer ähnlich, so, wie man sich Jazz eben vorstellt:
akustisch um die Gesangsstimme und ein Klavier herum gebaut, rhythmisch von einem leichten und federnden Swing voran getrieben und zwischen den Strophen mit Instrumentalsolos verziert, die in etwa so funktionieren wie ein Adventskalender: ein Fensterchen öffnet sich und zeigt ein buntes Bildchen, bevor es mit der nächsten Strophe weitergeht.
Auf einem anderen Dampfer ist eine zweite Gruppe von Jazzsängerinnen und –sänger unterwegs, die sich um Marketing und die Visualisierung von Images so wenig scheren wie um die Aufwallungen von Nostalgie oder Retro-Moden und einfach nur ihr Lied singen. Die stilistische Palette ist dabei so breit wie diejenige des zeitgenössischen Jazz insgesamt, die einen huldigen der strengen Form, lassen die Songlyrics keinen Moment außer Reichweite, interpretieren ihre Songs dicht entlang der vordefinierten Melodielinien und erschaffen gerade in ihrer Disziplin und Beschränkung die offenen Räume, in denen sich die Musik mit Energie auflädt. Andere gehen in die exakt gegengesetzte Richtung, suchen nach Zäunen, die sie einreißen, nach Grenzen, die sie verschieben können und danach, die Sprachen des Jazz in ihrer permanenten Erweiterung lebendig zu erhalten. Und die dritten suchen schließlich den Schulterschluss mit dem Blues, um ihre Musik an dessen ursprüngliche Energiepotentiale anzuschließen.
Bei aller Vielfalt der Programme erweisen sich die INNtöne Jahr für Jahr als ein Treffpunkt für diese zweite Kategorie von Sängern. Mansur Scott hat sich als langjähriger Stammgast auf der Festivalbühne längst so etwas wie den Rang eines Hausmusikers der INNtöne erspielt, mit dem warmen Ton seiner Stimme, seiner samtweichen Phrasierung und der schieren Kraft seines Gesangs bezieht er sich direkt auf die heiße Phase des modernen Jazz, auf die 60er-Jahre, als das Singen noch geholfen hat, die gesellschaftlichen Verhältnisse, den Rassismus zu überwinden. Dwight Trible und die Kollegin Tulivu-Donna Cumberbatch arbeiten in einem ähnlichen Geist, haben sich von den Gezeiten der stilistischen Moden abgekoppelt, folgen nur ihren persönlichen Visionen des Jazz und versuchen, die Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und musikalischem Ausdruck nicht abreißen zu lassen. Bei aller stilistischen Offenheit werden auch auf diesem Feld auf dem Jazz-Bauernhof Brücken gebaut, Brücken, über die der heiße Expressionismus traditioneller Shouter mit der unterkühlten Lässigkeit der Bossa Nova in Verbindung treten kann, die Experimentierfreude der Avantgardisten mit dem Stil der Ikonoklasten, der Facettenreichtum der Gegenwart mit der Energie der Wurzeln der Improvisation, der Jazz mit dem Gesang, seiner wohl tiefsten Wurzel.
Stefan Hentz