Das Rohe und das Eingekochte

2014-05-23

Gumbo, die Kunst aus verschiedenen Zutaten immer wieder einen hocharomatischen und überraschenden Eintopf zu bereiten, hat einst den Jazz hervorgebracht. Nun bringt sie den Jazz dazu, über sich hinaus zu wachsen. 

Okraschoten. Mehl. Krustentiere, Krabben und Muscheln. Einige Hähnchenbrüste und Paprikawürste, am besten Andouille. Olivenöl. Reichlich von der Dreifaltigkeit Zwiebeln, Staudensellerie, Paprikafrüchte, gewürfelt. Eine satte Zugabe von Knoblauchzehen verdient dem Ganzen das Prädikat „heilig“. Gehackte Petersilie, Thymian, Worcestersauce. Hühnerbrühe, Tomaten, notfalls aus der Dose und als Mark, Lorbeer, Salz, reichlich Tabasco, sehr reichlich. Ordentlich Hitze, um die Okraschoten und die Hühnerbrüste erst einmal separat vorzubräunen, dann in einer weiteren Pfanne Mehl in Öl erhitzen und durchbräunen lassen. Die festen Gemüse beigeben und später Tomaten und die weiteren Gemüse einrühren. Aufkochen, köcheln lassen. Fertig ist der Gumbo. Es ist weder Zufall noch Willkür, dass der Jazz gern als eine Art Gumbo beschrieben wird. 

Ein Eintopf also, schwer, deftig, feurig, scharf gewürzt. Gumbo kommt aus der schwülen Hitze von Louisiana, aus einer Region also, in der die europäische Landnahme unter zunächst französischer Herrschaft weniger brutal durchgeführt wurde als in anderen Zonen der US-amerikanischen Südstaaten, und in der es deshalb schon frühzeitig zu vielfältigem Kulturaustausch zwischen europäischen Abenteurern und Siedlern und indianischen Eingeborenen kam. Später bereicherten verschleppte Afroamerikaner, Engländer und Bewohner der karibischen Inseln die Palette der Zutaten und Zubereitungsweisen mit immer wieder neuen Varianten von Gumbo, das zu einem Symbol der spezifischen Völker-Begegnung und (zum Teil auch) -Vermischung im südlichen Teil Nordamerikas wurde. Ganz so, wie der Jazz in seinen Ursprüngen. Man nehme: das, was die aus Afrika verschleppten Sklaven von ihrer Musik über den Atlantik und die Jahrhunderte hatten retten können und die verschiedenen Musikformen, die die verschiedenen Schichten weißer Einwanderer aus Europa mitbrachten, als Fond: hier eine Vorstellung von Rhythmus, die sich mehr an der Vorstellung von Ekstase und Kontinuität orientiert, dort die abgezirkelten Tanzschritten der europäischen Fürstenhöfe, das gravitätische Schrittmaß aus den Kathedralen der Kleriker und im Schatten der Ausschweifungen der Feierbiester in den Dörfern der europäischen Normalarmen. Eine Vorstellung von Tonalität, die Melodien aus einem kontinuierlichen Tonhöhenspektrum ableitete, traf auf die mathematisch konstruierten wohltemperierten Tongeschlechter Dur und Moll mit ihren erlaubten und unerlaubten Tönen. Eine auf die Unterscheidung von Werk und Aufführung basierende Konzeption von Musik, die letzten Endes auf eine verinnerlichte Vorstellung des Individuums hinausläuft stößt auf eine, in der die Musik in dem Akt der Aufführung durch individuelle Musiker eine Gemeinschaft herstellt. Die Komposition, der Song, der Track zählen darin zu den Common Grounds der Menschheitsgeschichte, die jedem gleichermaßen zur Verfügung stehen. Später kamen noch jeden Menge weiterer Gewürze in diesen Eintopf, Einflüsse aus der Karibik und aus den Kirchen, der Blues von den Crossroads, das raue Dur von den Hillbillys und die Bella Musica von den Italoamerikanern – wenn erst einmal alles in Fluss geraten ist, kommt nach ein bisschen Köcheln reiner Jazz heraus. So kann man die Entstehung des Jazz zusammenfassen, und so geht es – sehr zur Verärgerung einiger Hüter des garantiert ganz, ganz echten Originalrezeptes - längst mit ihm weiter, und das Inntöne Festival in Diersbach bietet in diesem Jahr gleich mehrere Gelegenheiten, sich mit neuen Rezepturen vertraut zu machen. 

Wie einst in den klassischen Jahren des modernen Jazz das interstellare Arkestra von Sun Ra von seinen wechselnden Standorten Chicago, New York, Philadelphia aus, haben heute jüngere Bands ihre eigenen neuen Rezepte für das Gumbo mit Namen Jazz vorzustellen. Da ist das New Jungle Orchestra des dänischen Gitarristen und Orchesterleiters Pierre Dørge mit James Blood Ulmer, dem an der Musik Ornette Colemans gereiften Gitarristen, der einst beim No Wave den Ton vorgab. Die New Yorker Diskursmischer-Band Hazmat Modine ist so etwas wie ein im Plüschsessel versunkener  Enkel der Brass Bands aus New Orleans, bei denen Buddy Bolden das Modell des improvisierenden Leadtrompeters die Schablone für die Spielweise vorstellte, die wenig später Louis Armstrong zur Kunstform weiterentwickelte. Da ist der aus Graz stammende Hammond-Organist Raphael Wressnig mit seiner international besetzten Soul Gumbo mit dem Saxofonisten Craig Handy, der kürzlich mit einem eigenen Projekt an die Musik der Brass Bands anknüpfte. Einig sind sich diese sehr unterschiedlichen Ensembles vor allem darin, dass sie die Jazzgeschichte der vergangenen 100 Jahre kennen und verdaut haben, dass sie den Blues ebenso sehr beherrschen wie einen instrumentalen Choral aus der Kirche, einen kinetischen Straßenbeat und das Schmettern der Hörner aus der Second Line der alten Brass Bands. Von einem Bebop-Standard lassen sie sich ebenso wenig aus der Ruhe bringen, wie von der Begegnung mit ostasiatischen Obertonsängern oder anderen Stilperlen aus dem weiten Feld der Weltmusik. Die Auswahl der Zutaten ist tendenziell unbegrenzt, und diese Bands bedienen sich sehr freizügig in all den vielen Stilregalen. 

Doch alles klingt anders, denn sie packen die verschiedenen Quellen ihrer Musik nicht in die Vitrine einer historisierenden Spielweise, sondern jagen sie hinaus ins Freie, wo sie sich mit anderen Elementen anderer Stile balgen können und vielleicht gar zu ebenso unerhörten wie heiß laufenden Klängen verbinden. Sicher ist bei diesen Bands nur eines: der stete Wandel, und die Fähigkeit, den Satz, dass der Jazz der Sound of Surprise sei, mit immer wieder neuen Verknüpfungen und Geschmacksnoten zu bestätigen. Im Reigen der Verknüpfungen, den diese stilistisch polyglotten und abenteuerlustigen Bands im Gange halten, im Köcheln ihres musikalischen Gumbo, verdampft Wasser, das Element also, das die Hitze abkühlt und die Intensität im Wechselspiel der Aromen abmildert. Hitze ist garantiert und Bewegungslust, grenzenloser Spaß und jener hymnische Ernst, der den Jazz immer dann beseelt, wenn er sich über Grenzen hinweg setzt. 

Stefan Hentz