Je weiter die Globalisierung fortschreitet, je radikaler sie traditionelle Bindungen auflöst, desto stärker zeigt sich bei vielen Musikern der Drang, mit ihrer Musik an Klänge und Rhythmen anzuknüpfen, die ihren Entstehungsort verraten und eine neue Community stiften, Heimat.
Migrationsbewegungen sind fest im Erbgut des Jazz verankert. Von Afrika in die Karibik, rüber aufs amerikanische Festland, weiter, nach Norden, westwärts, drei Schritte hierhin, vier zurück und fünf weiter nach dort. Von Europa nicht anders, immer nach Westen dem Passatwind nach, eine Grenze nach der anderen einreißen. Mit den Menschen wanderten Prägungen und Erinnerungen, Erinnerungen auch an Töne und Klänge, Rhythmen und Harmonien und die bisweilen komplexen Bindungs- und Spannungsverhältnisse, die sie miteinander eingehen können. Wanderten musikalische Versatzstücke, Visionen von Tonalität und Timbre, Struktur und Stimmung. Und weil die migrierenden Menschen an Orte kamen, die schon zuvor nicht leer waren, stießen die mitgebrachten Versatzstücke auf andere, die eine andere Wanderungsgeschichte hatten. Seit jeher ist der Clash of Civilizations der Normalfall der Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkünfte, seit jeher erzeugt er Mischungen, in denen die unterschiedlichen Herkünfte mehr oder weniger prägend sind. So lassen sich aus den Migrationsbewegungen und den Begegnungen kultureller Muster aus unterschiedlichen Herkunftskreisen auch die Entstehungsvoraussetzungen des Jazz erklären, und darüber hinaus ein großer Teil der aktuellen Musik, ihre Entstehung im vergangenen Jahrhundert. Im Zusammenspiel mit den modernen Medien zur Verbreitung der Musik, mit der Schallplatte und dem Rundfunk schuf der Jazz die Basis für die populären Tanzvergnügen, für die verschiedenen Dia- und Soziolekte des Rhythm & Blues, für Beat, Rock und Pop und ihre Enkelschar, für Latin und Reggae und wie sie alle heißen. Und je größer die Vielfalt wird, je dominanter der ein oder andere Zug der Entwicklung, desto stärker wächst an vielen Orten das Bedürfnis, den eigenen ort zu markieren, Besitzverhältnisse zu reklamieren, eine Art von kollektiver Autorschaft, von Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort, einer bestimmten Gruppe und Community, zu einer Heimat.
Ein Sprung nach vorne, in Richtung Gegenwart: Pop, musikologisch betracht ein Spross aus dem Baum des Jazz, hat sich globalisiert und weltweit zur dominierenden musikalischen Leitkultur entwickelt. Das Gravitationsfeld zwischen geraden, gerne auf einem Backbeat beruhenden Viervierteltakten, seidigen, mit leichten Akkorderweiterungen angerauten Harmonien und Melodien, die nie darauf vertzichten, ihre Gesangstauglichkeit nachzuweisen, hat hinreichend bewiesen, dass es in der Lage ist, Klänge und Soundvorstellungen aus allen erdenklichen Baukästen in einer Musik zu vereinnahmen, die mit großer Kraft die gewünschten Emotionen anspielt. Schon der Rock’n’Roll eines Elvis war ein solches Amalgam von fremdelnden Musikpartikeln, das neue Dimensionen öffnete, die Verbindung britischer Unterhaltungsmusik mit amerikanischem Blues, den später die Beat-Bands der 60er-Jahre vornahmen war ein weiterer; schließlich machten sich im engeren Umfeld des Jazz Forschungsexpeditionen in die Musikkulturen der Welt auf, John Coltrane reiste – zumindest in seiner reichen Imagination – nach Spanien, nach Indien, Ornette Coleman besuchte die Gnawa in Marokko, Art Blakey bereiste den afrikanischen Kontinent, Gato Barbieri huldigte seinem Herkunftsland Argentinien, Don Cherry zog durch die ganze Welt. In Brasilien wogte die Bossa Nova an den Strand, Europa entwickelte eine neue Verbindung von Improvisation und Kammermusik, Adullah Ibrahim schrieb der Anti-Apartheidsbewegung eine Hymne. Nebenan in der Popmusik schritt die wechselseitige Durchdringung des starken Beats der Leitkultur aus der industriellen Welt und der lokalen Klänge – befördert auch von der fortgeschrittenen Digitalisierung der Produktionsverfahren – so zügig voran, dass im Pop längst alles möglich erscheint, jeder Winkel der Welt hat seinen eigenen Sound in das Materiallager eingespeist, jede neue Verbindung gibt den schon etwas überreizten Hörnerven neues Futter. Und je weiter sich eine solche Verbindung in die Welt verbreitet, desto lockerer wird das Band zu ihrer Herkunft. Und desto stärker wird gleichzeitig der Drang, den schmalen Pfad zu betreten, an dessen Ende die Musik wieder an die eigene Herkunft anschließt, Community stiftet, Heimat markiert.
Das Streben nach dem Klang einer identifizierbaren Heimat ist eines der subkutanen Leitthemen der INNtöne, prägender möglicherweise sogar als die Gattungsbezeichnung „Jazz“, die im Untertitel des Festivals prangt. Neben Jazz im traditionelleren Sinne und Jazz, der sich stark auf lokale Wurzeln bezieht wie das Quartett des österreichischen Schlagzeugers Wolfgang Reisinger mit dem sensiblen Flügelhornspieler Herbert Joos, dem Pianisten Patrick Bebelaar und Günter Lenz, einem Urgestein der deutschen Szene am Kontrabass oder dem Sextett des Allgäuer Trompeters Matthias Schriefl, steht hier Musik im Programm, die eher den Kategorien Blues, Latin, Afro-Reggae oder gar der alpinen Folklore zuzuordnen sind. Doch eines ist hier gewiss: es geht hier immer um das real thing, bei Otis Taylor’s Contraband um einen Blues, dem man nicht erst das zwölftaktige Harmonieschema überstülpen musste, bei Jerry Gonzales’ Comando De La Clave um ein afrokaribisches Gebräu, das den urbanen Drive Nuyoricanischer Machart wie den Beat der Clave im Rückgrat trägt, bei den Afrobeats des ghanaischen Sängers Rocky Dawuni. Sie alle vereint das Streben danach, die Musik über die Ufer treten zu lassen, über das Format der Songs und die Dimension des Hörens hinaus und aus dem unendlichen Vielfalt der Möglichkeiten eine neue Form der Verbindlichkeit zu destillieren, eine Form der Transzendenz, die das Konzert zu mehr macht als nur einem Konzert. Zur Feier einer neuen Gemeinschaft, die Musiker und ihr Publikum für diesen Moment vereint, zu einer neuen Heimat für all die verschiedenen Individuen mit ihren verschiedenen Vorgeschichten. Ganz so, wie es einst in den Wiegen des Jazz geschah.
Stefan Hentz