Newport 1956: Paul Gonsalves, Tenorsaxofonist in der Band von Duke Ellington, hebt ab. Immer höher fliegt er durch sein Solo: 27 inspirierte Chorusse, Idee auf Idee, Melodie wird zu Schrei, Schrei zu Jauchzen, Ellingtons "Diminuendo and Crescendo in Blue" zu einer Hymne, zu einem Gedankenstrom, in dem sich die gesamte Geschichte des Jazz, die Geschichte der nach Amerika verschleppten Schwarzen und ihrer traumatischen Begegnung mit der Kultur der Weißen ebenso kristallisiert wie ihre Gegenreaktion, ihr Trotz, ihre untergründige Rebellion und ihre Lebensfreude. Gonsalves’ solistische Tirade riss das Publikum im mondänen Yachtclub aus seiner Zurückhaltung, und machte es zu einem Teil jener Energie, die ihn zu immer weiteren Höhenflügen trieb.
Das Abheben, die Verwandlung einer Melodie in eine Hymne im Medium der Improvisation ist ein Ereignis musikalischer Magie, in dem der Jazz über vordefinierte Regeln und das alltägliche Erleben hinausweist. Auf beiden Seiten der Rechnung, beim improvisierenden Musiker wie beim Publikum, das seinen Wendungen folgt und dem Musiker mit der Energie seines Zuhörens zusätzlichen Treibstoff zuführt schalten sich kognitive Filter ab, Wahrnehmungen und Aggregatszustände des Körpers verflüssigen sich. Darin ist Improvisation alten Kulturtechniken wie Tanz und Trance verwandt, die die Musik vieler alter Musikkulturen prägen, ganz besonders deutlich auf dem afrikanischen Kontinent. Nur in Europa und dem europäisch geprägten Teil Amerikas wurde sie durch die Entwicklung der westlichen Kunstmusik in den Hintergrund gedrängt. Zwar blieb Überwältigung auch hier ein verbreitetes Ziel, doch schon ihre höfische Herkunft, das Umfeld von fortgeschrittener Affektkontrolle und raffinierten Verhaltenskodices, in dem diese Musik wurzelte, bevor das aufstrebende Bürgertum den höfischen Verhaltensstil übernahm und fortentwickelte, steht der Entgrenzung der Sinne im Weg. Trance ist dieser Musikkultur weitgehend fremd geblieben, Spuren davon findet man allenfalls noch in der Kirche, im Schalldruck der Orgel oder im monochromen Gemurmel der älteren Damen, die ihren Rosenkranz in reinen Sound, einen minimalistischen Track verwandeln.
Die Geschichtsschreibung des Jazz setzt ein auf einem Platz am Rande des French Quarter in New Orleans, auf dem Congo Square. Woche für Woche trafen sich hier an ihrem freien Sonntag versklavte Schwarze und spielten eine Musik, in der die Trommeln und die Rhythmen der entrissenen Heimat im Afrika der Vorfahren eine zentrale Rolle spielten, ekstatische Rhythmen, die die Zeit außer Kraft setzten, zum Tanz riefen. Rhythmen schließlich, die dazu herausforderten, auch melodisch mit Leben gefüllt zu werden, die zur Improvisation auffordern, zur Variation, zum Weiterspinnen, zur Entgrenzung, zu einer Freiheit im Umgang mit der Musik, die sich der Jazz zunutze machte. Von den Street Bands, die vielleicht aus Anlass einer Beerdigung durch die Straßen New Orleans’ zogen über die kleinen Bands, in denen die verschiedenen Blasinstrumente ihre Linien miteinander verflochten, bis zu den Orchestern, die sich in späteren Phasen erbitterte Battles um die Gunst des Publikums lieferten und den Instrumentalisten, die den Wettbewerb in den kleineren Maßstab übertrugen bis in die Hochphasen des modernen Jazz, wo Musiker wie John Coltrane ihre Improvisationen so weit aufluden, dass sie an die ursprünglichen Ekstasen des Tanzes anschließen. Die vorgegebene Struktur, Melodie, Harmonie, der vorgegebene Rhythmus: sie waren nur Ausgangspunkte, Knospen für die Musik, die in der Improvisation aus ihnen entsteht.
Irgendwann in der Mitte der 60er-Jahre tauchte ein junger Tenorsaxofonist aus Little Rock, Arkansas an der Seite von John Coltrane auf, der konsequent wie kein anderer den hymnischen Ton im Jazz weiterführte. Während Coltrane in seiner Musik die strukturellen Zügel immer lockerer ließ, damit der spielerischen Phantasie der Solisten immer weniger Vorgaben im Wege standen, kultivierte der junge Pharoah Sanders seine instrumentale Stimme: ausgehend von Coltranes „Sheets of Sound“, in denen die einzelnen Töne so direkt ineinander zerflossen, dass ihre Tonhöhen und –längen im einzelnen nicht mehr nachzuvollziehen waren, trieb er sein Spiel mit Flageoletts, Multiphonics und Splittertönen an den Rand des Geräuschhaften und lud seine Linien mit einer einzigartigen hymnischen Inbrunst auf. „Trane was the Father, Pharoah was the Son, I am the Holy Ghost“, stellte Albert Ayler, der dritte große Hymniker unter den Saxofonisten der 60er, die Bedeutung des jungen Saxofonisten aus Arkansas, der als einziger aus dieser Dreifaltigkeit die 60er überlebte, in eine Perspektive. Sanders trug die Fackel weiter, er spielte mit den musikalisch gewichtigsten unter den Hinterbliebenen, mit Alice Coltrane und mit McCoy Tyner, verband später seine Stimme mit derjenigen des Vokalisten Leon Thomas, dessen Gesang bisweilen in die Nähe eines kitschbereinigten Jodelns kippte, und schrieb seine Erkennungsmelodie „The Creator Has a Masterplan“, die Hymne des hymnischen Jazz, die den Kern seiner Musik deutlich macht, den Kontrast zwischen dem äußeren Stillstand in einer strikt reduzierten Pendelharmonik und der inneren Explosivität, die im dionysisch überschäumenden Miteinander der Melodiestimmen zum Ausdruck kommt.
Vier Jahrzehnte später ist Sanders immer noch unterwegs, und bei „Jazz am Bauernhof“, bei den INNtönen ist der Boden gut bestellt für seine Botschaft. Jazz der hymnischen Art und Musiker, die ihr Ziel darin sehen, über den Moment hinaus zu wachsen, zählen hier zu den festen Programmpunkten. Da ist die Garde der Vokalisten, mit Mansur Scott, der mit seinem „Harlem Quartet“ zu den Fixpunkten der Programmplanung gehört, ein Sänger, der mit einer mitreißenden Leidenschaft die Grenzen der Musik verschiebt und in diesem Jahr den fulminanten Baritonsaxophonisten und Tubaspieler Howard Johnson als speziellen Gast mit nach Diersbach bringt. Da sind das Quartett der Sängerin Tulivu-Donna Cumberbatch oder das Duo von Dwight Trible mit dem Pianisten Bobby West – immer geht es bei diesen Sängerinnen und Sängern und ihrer Musik darum, Entgrenzungserlebnisse auszulösen bis hin zu tranceartigen Zuständen, die direkt zurück verweisen auf Höhenflüge wie Paul Gonsalves Solo in Newport als Ausdruck der ekstatischen Energien des Jazz und auf seine Ursprünge auf dem Congo Square.
Stefan Hentz