Der Moment der Stimme

Stimmen sind der heimliche Bezugspol jeder Musik. Bei den Inntönen werden Stimmen zu Klang, die neben der Musik auch ihre Geschichte hörbar machen.

Schon ganz von innen heraus ist so eine Stimme ein irres, ein höchst persönliches Ding. Sie wird getragen vom Atem, dem Hin und Her der Luft auf einer stabilen Luftsäule, die von den Atemwerkzeugen, Mund, Nase, Rachen bis ganz tief hinunter in den Körper führt durch Brust und Bauch und tiefer, bis in die letzte kleine Verästelung, die letzte kleine Luftkammer, zwischen Nerven, Muskeln, sonstige Fasern. Und weil jede kleine Kammer ihre Spuren, ihre Resonanzen in der Stimme hinterlässt, weil sich jede Fehlhaltung, jede muskuläre Verspannung, jedes Nachlassen der Gewebsspannung in Folge von Müdigkeit, Erschöpfung, Unausgeglichenheit direkt auf das Wechselspiel der Resonanzräume im Körper auswirkt und sich jede wiederholte Handlung schnell zu einem individuellen Bewegungsmuster ausprägt, lässt sich die Stimme nicht nur als ein Indikator der momentanen Befindlichkeit begreifen, sondern auch als eine Art Speicher der Summe von Gemütszuständen, und das sogar über Generationen hinweg. Damit wären wir beim Blues, einem der von der Stimme geprägten direkten Vorläufer des Jazz, bei dessen Stimmen dem nicht gar zu viel Phantasie nötig ist, um in ihnen einen Nachhall der Erfahrung der nach Amerika verschleppten Afrikaner zu hören. Man hörte bei den Großen Alten des Blues, bei Musikern wie Charlie Patton, Son House oder Blind Lemon Jefferson, den Sound der Baumwollplantagen, das Klappern der Erntemesser und der Cotton Gin, einer Art Baumwolldreschmaschine und das Quietschen der Tragekörbe, ganz leise hörte man den Hufschlag der Pferde, auf denen die Aufseher heranpreschten,  das Klirren der Ketten und die Eintönigkeit der Arbeit, jäh unterbrochen durch scharfes Hundegebell und den schrillen Schrei der Peitsche. In dem schütteren Soundgewand, das sie ihrer Musik umhängten hörte man bei den frühen Bluessängern, wo sie herkamen; die Leidensgeschichte ihrer selbst und ihrer Vorfahren fand sich wie eingraviert in ihren Gesang, nicht zu tilgen, durch keinen Kirchenchoral und auch durch keine Gesangsausbildung. 

Vom Blues hat sich diese Klanggravur verlängert bis in den Jazz hinein, man spürt es, wenn die Intensität einer Stimme, mehr auslöst als in der gerade gespielten Situation im gerade anklingenden Stil zu erwarten wäre. Wenn Sänger vom Kaliber eines Johnny Hartman, eines Leon Russell, Gregory Porter oder eines Mansur Scott, einer Abbey Lincoln, einer Dianne Reeves, Jeanne Lee oder einer Ella Fitzgerald ihre Stimme in unkartographierten Zonen schweifen lassen. Wenn ihre Intensität die sicheren Zusammenhänge dessen aufsprengt, was als professionell gespielte Musik längst zum Standard geworden ist und in emotionale Zonen vordringt, die weit über das hinaus wirken, was in technischen Begriffen wie Artikulation, Intonation oder Phrasierung zu beschreiben wäre. Man muss – im technischen Sinne - nicht singen können, um in diese Zonen zu gelangen, auch das ist eine Lehre aus dem Fundus des Blues. Sehr oft sind es gerade die Sänger, die keine Sänger sind, die im Blues und Jazz die Verbindung zur Vorgeschichte halten, Instrumentalisten wie der Gitarrist James Blood Ulmer etwa oder der Saxofonist Craig Handy, die ihre instrumentale Virtuosität hinter sich lassen und singen, weil sie spüren, dass die Musik das gerade braucht, um noch ein Stück weiter abzuheben. Zu den besonderen Qualitäten der Inntöne gehört es seit jeher, ein besonderes Gespür für diese Sänger zu haben, die in den Tiefenschichten der Musik wurzeln und unter souveräner Umgehung der gängigen Nachtbar-Klischees die Kontinuität von Blues und Jazz und allen (schwarzen) Musikformen unterstreichen. 

In diesjährigen inntöne-Programm weist ein ausgewachsener Blues-Schwerpunkt auf diese Traditionslinien hin: Die aus Australien stammende Gitarristin Fiona Boyes, eine Stylistin des ausgefuchsten Pickings und Geistesenkelin von Memphis Minnie legen hier eine deutliche Spur vor, die der dem elektrifizierten Chicago Blues gewidmete Abend mit den Blueslegenden Billy Boy Arnold, John Primer, Billy Branch, Lurrie Bell und Carlos Johnson noch einmal durch die Lupe der angeschlossenen Verstärker ausbuchstabiert. Auf der Gegenseite verbreitern die eher eklektisch orientierten Wade Schuman mit der Stilmischer-Bande Hazmat Modine sowie die singenden  Instrumentalisten Craig Handy und James Blood Ulmer, der eine als Gast in Pierre Dørges New Jungle Orchestra und der andere in Raphael Wressings Soul Gumbo den Horizont um einen mächtig dampfenden Eintopf modernerer Klänge und führen den Beweis, dass der Blues und die Intensitäten, die er beschwört längst in ein breites Spektrum von Spielarten der schwarzen Musik eingeflossen sind. So werden Mansur Scott, längst so etwas wie der Haussänger der inntöne, sowie die Sängerin und Pianistin Camilla Mraz, die im Trio mit ihrem Mann dem Kontrabassisten George Mraz anreist, die Regler noch einmal ein gutes Stück in Richtung modernen Jazz verschieben, eher erdig und bluesdurchtrieben der eine, etwas feinsinniger und zurückhaltender die andere. Eine Sonderstellung im Zentrum dieses Vokalistenreigens möchte man Raúl Midón zuweisen, einem Weltenwanderer der Musikstilistiken, der als Gitarrist ein ganzes Orchester vergessen macht und als Sänger nebenbei einen kompletten Mendelssohn-Chor. Doch ist es beileibe nicht die Faszinationskraft seines Könnens, mit dem der blinde Sänger seine Wirkung erzielt, sondern die Tiefe seines Tones, es sind die Schrunden und Kratzer in der Stimme, die kleinen Auffälligkeiten, Heiter- und Heiserkeit, das Brummen aus den Tiefen seiner Resonanzräume, die Modulationsfähigkeit in den oberen Lagen, wo ihr Hauptstrom im Kopf gebildet wird. Es ist die Gleichzeitigkeit von Kunst und Hingabe, die dieses Mehr schafft, für das es kaum einen geeigneteren Ort geben kann als die Inntöne-Konzertscheune auf Paul Zauners Biohof bei Diersbach. Hier sorgt die hervorragende Ton- und Bühnentechnik dafür, dass die Feinheiten der Musik zur Geltung gebracht werden, während das ganze  Drumherum, das familiäre Miteinander aller am Festival Beteiligten die Musiker auf die Wärme einer Intimität und Nähe einpegelt, wie man sie sonst allenfalls im Wohnzimmer erzeugt. So entstehen Momente. Momente, in denen die Musik die Grenzen ihrer Sphäre übertritt, in denen die Stimmen mit all ihren Spuren zu Klang werden, aktuell, Momente, die man nicht wieder vergisst. 

Stefan Hentz