Irdische Klänge jenseits der Gipfel

2013-04-10

Über allen Gipfeln, da hat Goethe wohl Recht, ist Ruh. Doch weiter unten, da ist was los, da schreiben Jodler ihre akustischen Nachrichten in den Raum oder ein Horn zeichnet seine Linie in die Luft. Manchmal ist es auch eine Trompete, eine Tuba, ein Akkordeon, eine Klarinette oder was sich sonst so findet. In sanften Bögen doch mit durchdringendem Klang entwickeln sie ihre Melodien, mal elegisch bis verträumt und dann wieder zupackend, gefüllt mit Groove und Bewegungslust. Häufig sind sie weithin zu hören, musikalische Labsal für ganze Gemeinden, für die Nachfahren alpiner Stämme, die sonst ein kleines bisschen abgeschieden bleiben vom aufgeregten Treiben der Musikszenen. Und noch weiter unten, da gibt es noch viel mehr, Ländler, Lieder, Lustigkeiten für Feiern und Festlichkeiten aller Art und Form. Umherziehende Musiker, die für jede Gelegenheit, jede Geburt, Grundsteinlegung, Grabfeier den rechten Ton im Repertoire führten. 

Das Alpenland ist nicht das Mississippi-Delta, aber die dörflichen Lebensformen in teils einsamer Gebirgslage brachten eine Kultur von Nähe und Festen hervor, die einige Parallelen zu derjenigen in den ländlichen schwarzen Gemeinden der US-Südstaaten aufweist. Da ist die orale Form der Überlieferung von Klängen, die sich der schriftlichen Fixierung entziehen; da ist der Bezug auf einfache, vertraute Strukturen, die sich ohne weitere Absprachen zum gemeinsamen Spielen, zur Improvisation eignen; da ist die Offenheit für untemperierte Tonbildung aller Art und die Unbekümmertheit, mit der sich manche Rhythmen in 3 sowie in 4 Zählzeiten gliedern lassen, man könnte es fast schon Swing nennen. Schließlich die Einbettung der Musik in das Alltagsleben der lokalen Communities, ihre Gebundenheit an bestimmte Rituale und Anlässe, das Gefühl von Zusammengehörigkeit, das sie mittransportiert. All diese Besonderheiten lagen auch dem Jazz in der Wiege, und möglicherweise führen diese Übereinstimmungen heute dazu, dass die Alpenregion ganz besonders lautstark in die Annalen des aktuellen Jazz drängt. Musiker wie der Schlagzeuger Alfred Vogel oder der Saxofonist Wolfgang Puschnig in Österreich, wie der Gitarrist und Obertonsänger Christian Zehnder oder der Akkordeonist Hans Hassler in der Schweiz oder der Allgäuer Trompeter Matthias Schriefl, die sich auf ihre je eigenen Weisen in der alpenländischen Materialkiste bedienen, mögen hierfür als Beispiele herhalten. 

Österreich hat im Jazz schon frühzeitig auf sich aufmerksam gemacht: in den Fünfziger Jahren, als Europa noch weiträumig in seiner Nachspielphase steckte, hissten Musiker wie Hans Koller oder Joe Zawinul auf den ureigenen Territorien des damals zeitgenössischen Jazz, dem eher cool orientierten bei Koller, dem erdigeren Hardbop bei Zawinul, mit eigenen Ideen ihre Banner. Später verschmolz der Name der Hauptstadt mit demjenigen des Art Orchestra des manischen Arrangeurs und Orchesterleiters Matthias Rüegg, eines aus der nicht weniger alpin geprägten Schweiz zugewanderten Musikers. In den mehr als 30 Jahren seines Bestehens erarbeitete sich das Vienna Art Orchestra den Ruf eines der außergewöhnlichsten, gleichzeitig innovativen und knietief in der Fülle der europäischen Tradition watenden Jazzorchesters allerersten Weltranges. Und während der Nachschub an international orientierten und geschätzten Musiker wie dem Kreis um den Trompeter und Flügelhornspieler Franz Koglmann oder - in den letzten Jahren - die Brüder Christian und Wolfgang Muthspiel nie abriss, hatten sich unter der Wahrnehmungsschwelle der breiteren Öffentlichkeit immer wieder Gruppen von Musikern zusammen gefunden, die ihre Musik deutlicher vom Jazz-Mainstream abgrenzten, ein stärkeres Gewicht auf die Freiheit der Improvisation legten oder sich direkt mit musikalischen Einflüsterungen aus dem Alpenraum befassten. 

Bei den INNtönen haben solche Musiker einen guten Stand, die Präsentation von Musik und Musikern aus der Region gehört seit jeher zu den inhaltlichen Fixpunkten des Programmes, und das wird sich auch in diesem Jahr nicht ändern. Vor allem Matthias Schriefl wird dem Festival ein deutlich alpines Klanggewand umhängen, „Six, Alps & Jazz“, seine im vergangenen Jahr erschienene jüngste CD - die den Brückenschlag zwischen Alpen und Jazz bereits im Titel anlegt und den Jazz dabei zuletzt erwähnt – strotzt nur so von wilden Intervallsprüngen wie aus traditionellen Jodlern und anderen eindeutig in der Folklore beheimateten melodischen Formeln, die auch in der Artikulation und Rhythmisierung nicht in auf einen anderen Kontinent verschleppt werden. Noch einen Schritt weiter geht Schriefl als seit langem gern gesehener Gast der Unterbiberger Hofmusik, einer einzigartigen Familienband aus der Münchner Vorstadt. Franz-Xaver und Irene Himpsl, ein klassischer Trompeter und eine Musiklehrerin, hatten das Ensemble vor gut zehn Jahren gegründet. Franz Xaver Himpsl war sesshaft geworden, hatte den Musikerberuf an den Nagel gehängt und sich als Realschullehrer eine neue Existenz aufgebaut, und nun wollten die beiden gemeinsam bei Feiern und für Freunde bairische Volksmusik spielen. Auf dem Niveau, auf dem sie spielten, waren sie schnell eine gefragte Band. Längst sind die Söhne Xaver Maria, Ludwig Maximilian und Franz Josef Himpsl, als weiterer Trompeter der eine, als Hornspieler und Perkussionist der zweite und als Sänger der dritte, in die Familienbande hinein gewachsen, das Line-Up wurde durch Tuba, Posaune und Harfe ergänzt und das Ensemble zog immer größere Kreise. War es zunächst die Begegnung mit dem Jazz, die Himpsl schon als klassischer Trompeter forciert hatte, knüpften sie  nun Bande zur brasilianischen Musik, zum Groove südosteuropäischer Brassbands und im vergangenen Jahr mit „Bavaturka“, dem jüngsten Album, zu türkischer Folklore und erzeugten damit die vertrauten Qualitäten: Spaß, Leidenschaft und Tiefe. Und siehe da: die bairische Folklore der Unterbiberger erweist sich in all diesen Kontexten als anschlussfähig, als eine Musik, die kein bisschen ihrer Kraft und Bewegungsenergie einbüßt, wenn sie sich der Begegnung mit fremden Klangvorstellungen aussetzt. Der Schlüssel zu dieser allseitigen Anschlussfähigkeit liegt sicher in den gleichen strukturellen Eigenheiten, die auch die Globalisierung des Jazz in den 100 Jahren seiner Geschichte vorangetrieben haben. Ganz oben, auf seiner Wolke über den Gipfeln kann sich Goethe beruhigt ins Kanapee räkeln: der Nachschub an aufregender Musik ist gesichert, er muss nur gut genug hinhören.

Stefan Hentz