Spaceship im Landeanflug

2014-04-22

Bei den Inntönen in Diersbach findet Sun Ras interglaktische Musikkarawane ein gleichzeitig fremdes und vertrautes Biotop.

Es war immer wieder schön anzuschauen, wie sich das Sun Ra Arkestra in den 70er/80er-Jahren auf fremdem Territorium bewegte. Im Gänsemarsch, eins streng in der Spur des anderen, der Meister vorneweg, zog die Karawane der angegrauten Herren mit Gefolge durch die labyrinthischen Gänge europäischer Flughäfen. Wesen aus einer fernen Galaxie, die einer enormen Organisation und Disziplin bedurften, um nicht augenblicklich die Orientierung zu verlieren. Das Arkestra wirkte wie ein streng hierarchisch organisierter Haufen, und ein solcher war es auch, eher vom Geist des Preußentums durchweht als von Widerborstigkeit, Kifferwitz und angewandter Chaostheorie, die man in Europa mit kollektiven Reise-, Wohn- und Arbeitsformen assoziiert. Doch sobald die Band ihr Ziel erreicht und die Musiker in ihren vielfältig glitzernden Gewändern die Bühne bestiegen hatten, war das Bild ein komplett anderes: cool, lässig, extrovertiert. Nun war jeder einzelne Musiker auf der Höhe der Situation und kannte jeden Weg, jede plötzliche Wendung der musikalischen Geschehnisse, die im Verlauf eines Konzertes auftreten konnte, jeder wusste, was zu tun und was zu lassen war. Sun Ra hatte ein Repertoire für sein Arkestra angehäuft, das die ganze Geschichte des Jazz umfasst: von den Anfängen in der Karibik, in New Orleans und den ländlichen Regionen der Südstaaten Nordamerikas über den eleganten Schwung der Swingorchester und die ausgeklügelten Harmonieauflösungen des Bebop bis in die große, spirituelle Freiheit des New Thing. Im filigranen Gleichgewicht zwischen Ernsthaftigkeit und selbstironischem Humor, zwischen intergalaktischer Gedankenfreiheit und irdischer Sinnenfreude hatte Ra eine Form gefunden, über seine eigene Lebensfrist hinaus lebendig und spannend zu erhalten.

Wenn das Sun Ra Arkestra nun, zwei Wochen nach dem 100. Geburtstag des 1993 verstorbenen Bandleaders -und eine Woche nach dem 90. von Marshall Allen, dem aktuellen Stellvertreter Ras auf Erden - zu den Inntönen nach Diersbach kommt, dann ist das in mehrfacher Hinsicht ein Ereignis. Zum einen unterstreicht schon die mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Bandleaders unvermindert swingende Lebhaftigkeit der Band die Nachhaltigkeit der Faszination, die das Gesamtgebilde Sun Ra Arkestra auf die infizierten Musiker ausgeübt hat. Der Altsaxofonist Marshall Allen, der nun die Band leitet, gehörte Anfang der 50er-Jahre, zu den aufregenden Musiker der Szene in Chicago, ein Stilist seines Instruments, der bei aller Traditionsverbundenheit einen eigenen Ton entwickelt und sein Spiel in viele Richtungen geöffnet hatte, bevor er sein ganzes weiteres Musikerleben der Musik von Sun Ra und seines Arkestra widmete. Und er war bei weitem nicht der einzige: auch die unter Kennern ebenso geschätzen Saxofonisten John Gilmore, Tenor, und Saxofonisten Pat Patrick haben für die Musik des Arkestra jede Menge lukrativerer Engagements liegen lassen. Wer einmal im Sun Ra Arkestra angekommen war, und die Energien gespürt hatte, die erst in Jahrzehnte anhaltenden Probeexzessen entstehen, der wird an der Effizienz heutiger Zurufs-Profis, die heute hier und morgen dort ihre austauschbaren Dienste versehen, nichts interessant finden.

Wirklich haltbar gemacht hat Sun Ra diese Bindungskräfte, als er sein Arkestra nach der Gründungsdekade in Chicago und einem siebenjährigen Intermezzo in New York schließlich nach Philadelphia lenkte.  Der damals schon 54 Jahre alte Musiker, der in seinem Musikerleben selbst eine Brücke vom Blues seiner Herkunft aus Birmingham, Alabama bis zur Jazzmoderne im New York der 60er, vom Doo-Wop-Gesang bis zur orchestralen Organisation schlug, verfolgte hier eine Vision, die zur gleichen Zeit auch in den Hippiekreisen Nordamerikas und Europas in Umlauf war. Der Traum von der Selbstverwirklichung in einer kollektiven Lebensgemeinschaft, von der bruchlosen Verbindung von Leben und Arbeit, materieller und Beziehungsproduktion hat eine Geschichte sowohl in der schwarzen Diaspora in Nordamerika wie auch in Utopien, die junge Künstler anderthalb Jahrhunderte zuvor im Zeitalter der Romantik entwickelten. Und genau zu jener Zeit in den späten 60er-Jahren, als in Europa junge Menschen, die überwiegend aus der weißen Mittelschicht stammten und sich in der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg politisiert hatten, ihrem Protest in eine existentielle Dimension gaben, indem sie sich von traditionellen Lebensmodellen distanzierten und Modelle der gemeinschaftlichen Produktion entwickelten, die zwischen handfester genossenschaftlicher Zusammenarbeit, purer Wohngemeinschaft und der umfassenden Vergesellschaftung in der Kommune variierten, bezogen Sun Ra und sein Arkestra ihr Haus in der Morton Street im Stadtteil Germantown in Philadelphia. Mit diesem Haus, das die gemeinsame Arbeit auf eine völlig neue Basis stellte, wurde das Wachstum der Musik des Sun Ra Arkestra überhaupt erst möglich. Fern von all den politischen Überhöhungen, die in Europa mit der Bewegung zu alternativen Lebensformen verbunden war, war es möglicherweise Sun Ras Musikerkommune, die dem Ideal einer von der Kunst inspirierten Produktionsweise am nächsten kam.

Wenn nun diese Band, die die ursprüngliche Idee der Kommune so konsequent auslebte wie kaum jemand sonst, nun auf den Oberösterreichischen Bio-Hof, der allerdings nie eine Landkommune beherbergte, einen Zwischenstopp einlegt, wird es sein, als wäre Sun Ras Raumschiff in einer extrem fernen Galaxie gelandet, in der allerdings sehr ähnliche Lebensbedingungen herrschen wie sie zu Ras Zeiten auf dem Planet Earth in der Morton Street herrschten. Die Musiker werden sich hier fühlen wie fremd und gleichzeitig zuhause. Spätestens wenn sie auf der Bühne stehen.

Stefan Hentz