29.05.2012 / Passauer Neue Presse

"Bringt eure Kinder mit! Sie werden Jazz lieben!"

Undogmatisch und herrlich bunt: Das 27. Inntöne-Festival im oberösterreichischen Diersbach ist beste Werbung für das Genre − Drei Blicke auf drei Tage Musik

An drei Tagen die Größte an Leibesumfag und Stimme: Carmen Bradford, die letzte Sängerin im Orchester des Bandleaders Count Basie vor dessen Tod 1984, und Professorin für Jazzgesang an der Universität von South Carolina in den USA.

DER AUFTAKT

Berauschend, betörend, bejubelt: Die chinesische Formation Xi Ban hat den Inntönen einen hinreißenden Auftakt beschert – und ein Beispiel geschaffen für die erstaunliche Kraft, die dieses Festival im Innersten zusammenhält: Vertrauen. Hier geht ein Veranstalter ganz einfach davon aus, "dass alle gut oder ganz gut spielen". Das tun sie. Hier verlassen sich Künstler darauf, dass man ihnen in der Fremde eine würdige Bühne bereitet. Die bekommen sie. Hier bezahlen die rund 3000 Gäste für Programme voller unbekannter Namen im Vertrauen, dass diese Namen es wert sein werden.

Und das sind sie: Obwohl Xi Ban bis zuletzt um ihre Visa bangen mussten, obwohl nur vier der sechs Bandmitglieder letztlich anreisen durften, obwohl sie noch nie zuvor außerhalb Chinas aufgetreten sind, geschweige denn in einer Scheune – trotzdem spielen sie ein Konzert, das nicht wegen dieser "Obwohls" in Erinnerung bleiben wird. Sondern wegen einer Musik, die Europa gerade noch gefehlt hat.

Wirbelnde perkussive Muster, gestochen scharfe Miniatur-Riffs aus Laute, San Xian und Gitarre, dazu Flötengezwitscher, eine wild gewordene Maultrommel und der unerbittlich lockende Groove des Didgeridoos: Zhu Ma, Sina Lamu, Gay Renaud und Joseph Johnny Allen entwickeln aus einer Unmenge von Klang-Kleinigkeiten einen Sound von monumentaler Fülle, garniert mit Lamus überirdisch schöner Singstimme und der Spielfreude eines Ensembles, das gerade seinen Gig des Jahres spielt.

Das Ergebnis tobt ungewohnt und ungebremst durch die Gehörgänge, wirft das vertraute Musik- Vokabular über den Haufen und sämtliche Jazz-Kategorien hinterher. Keine Ahnung, was das ist, aber es hat genug Seele, Feuer, Charme und Musikalität, dass zwei Stadl-Etagen bayerisch- österreichischer Zuhörer chinesische Refrainzeilen skandieren, notgedrungen im Sitzen tanzen, laut und leidenschaftlich gemeinsam Session feiern – in der Gewissheit, dass sich das Vertrauen absolut gelohnt hat.

DAS KERNSTÜCK

Die Stars von gestern liegen gestreckter Längs im Gras hinterm Hof in der Nachmittagssonne. Die Stars von morgen verputzen gegrillte Forelle im Hof, irgendwo dazwischen lernen Kinder jonglieren. Ihre Eltern wurden im Konzert-Stadl bereits überschwemmt von der Kreativität des 1984 geborenen österreichischen Piano-Überfliegers David Helbock und seines witzig-exaltierten Trio-Bläser-Projekts Random/Control, sie werden tief in der Nacht noch kreischen vor Lust am Quintett des Bariton- Saxofonisten Ronnie Cuber, der den Bop eines Horace Silver noch ein wenig energetischer und grooviger spielt als im Original.

Und was kommt jetzt? So Jazz-Standards, irgendeine Amerikanerin, mal sehen. Carmen Bradford, das ist sicher, wurde vor 52 Jahren geboren in Austin/Texas (von Vorjahres-Inntöne-Gast Melba Joyce), arbeitet als Professorin für Jazzgesang und hat als 22-Jährige zu Count Basie gesagt: "Engagieren Sie mich, Sie werden Millionen verdienen!" Er tat es. Bradford, das ist geschätzt, vereint rund 150 Kilogramm auf rund 150 Zentimeter. Bradfords Stimme, das ist keine Übertreibung, kann sich in Volumen und Präsenz lässig mit ihrem Leib messen. Und sie singt Standards wie "The Shadow Of Your Smile" und "Mr. Paganini" in einer Art, die mit minutenlangen Standing Ovations billig bezahlt ist.

Wann hat je einer seine Stimme derart beherrscht? Bradford zieht Klangfarben wie Orgelregister, jeden Takt, jedes Wort neu. Vibratolos, zeitlos, durchdringend, öffnend, druckvoll, gleißend, Brust und Falsett, zärtlich und packend, Kammermusik und Oper, wie es ihr gefällt. "Wie cool ist das? Jazz auf dem Schweinehof!" Der Sängerin geht es mindestens so gut wie dem Publikum. "Bringt eure Kinder mit! Dann werden sie den Jazz lieben!" Genau so einfach ist das. Wenn die Musik stimmt.

DAS FINALE

Die dezenten Töne, mit denen ein österreichisches Trio den Sonntag Nachmittag einleitet, wären auf einem anderen Jazzfestival wohl untergegangen. Drei Meister auf ihren Instrumenten verbinden sich da zu einem kapriziösen Ausflug, der gleichwohl daherkommt wie ein heiterer Sonntagsspaziergang. "Wieder ein kompliziertes Stück von mir", kommentiert Robert Weiß selbstironisch. Konzentriert und für einen Flügel ungewöhnlich leise interpretiert er seine Collagen aus verschiedenen Stilvorgaben. Was Wolfgang Puschnig am Saxofon zu sensibel eingeklinkten Tönen animiert. Er und Woody Schabata am Vibrafon bringen sich an passender Stelle aber auch mit virtuoser Kraft ein.

Sie bilden den Ausgangspunkt für eine Steigerung an Ausgelassenheit und Klangfülle, die am Ende ihren Höhepunkt in der französischen "Kreiz Breizh Akademi" findet. Als eine Art Big-Jazz-Funk- Rockband bereiten die elf jungen Musiker traditionelles Liedgut aus der Bretagne zu voluminösen Open auf. Harfe, elektronischer Sound und schlagkräftige Bläsersätze arrangieren sich wie selbstverständlich mit der mystischen Intensität nordischer Gesänge. Einmal mehr hat hier Paul Zauner eine aufregende Neuauflage von Folklore entdeckt. Wesentlich intimer war Derartiges vom Ensemble der kolumbianischen Sängerin Lucía Pulido zu hören. Sie lässt ihre glühende Stimme und eingängige Rhythmen von feinen jazzigen Zwischentönen unterlegen.

Bei den Jazz-Hauptacts hat der Impressario im Hintergrund selbst mitgemischt und Fusionen der persönlichen Art vorbereitet. Zum jungen, energiegeladenen Trio des Pianisten Florian Weber lud Zauner mit Gerd Dudek und Heinz Sauer zwei deutsche Altstars am Saxofon dazu. Der Sängerin Barbara Morrison aus Los Angeles verschaffte er eine erlesen swingende Jazzcombo. Dank ihrer gefühlvollen Stimme und ansteckend guter Laune erntet sie für oft gehörte Standards Standing Ovations

Vom Inntöne-Festival berichten: Katrina Jordan, Raimund Meisenberger und Gabriele Blachnik.

Artikel auch online unter: http://www.pnp.de/nachrichten/heute_in_ihrer_tageszeitung/kultur/430782_Bringt-eure-Kinder-mit-Sie- werden-Jazz-lieben.html