Das große Staunen, das große Schwitzen

Was sind schon 30 Grad gegen diese Musik? − Das 29. Inntöne-Festival „Jazz am Bauernhof“ im grenznahen Diersbach lässt Herzen rasen und Münder offen stehen.

Unsterblich − Freitag

Er lebt noch immer, der Blues, und er hat sich verflixt gut gehalten. Immer noch hält er locker bis drei Uhr, vier Uhr früh durch, und auch dann lässt das Publikum ihn nur widerwillig gehen. Am ersten Festivaltag kann man den Hauch des Legendären wieder einmal besonders gut herausriechen aus den klassischen Inntöne-Aromen von Stall, Brathendl und sonnenwarmem Gras – und die zehnköpfige Mannschaft der Show „Chicago Blues A Living History“ setzt mit dem Schlusskonzert eine mächtige Duftmarke. Dabei beginnt die Show, die großenteils von Söhnen der Söhne der Väter dieser immer noch lebendigen Musik getragen wird, geradezu bescheiden: ein Piano, ein Schlagzeug, 16 Takte. Trotzdem reicht ein halbes Set, um in Stein zu meißeln, das der Blues bitteschön ewig leben wird, weil er in dieser Vollendung einfach zu großartig ist um unterzugehen.

Nicht dass man Perfektion davor vermisst hätte. James Blood Ulmer, Pierre Dørge und das New Jungle Orchestra zeigen zum Auftakt das seltene Kunststück, sowohl den Freunden freier Tonalität als auch den Verehrern des klassischen Swing ein breites Grinsen ins Gesicht zu spielen. Ulmers Gitarre bestimmt den Puls dieses wirbelnden Konzertierens, Dørge inszeniert ein Wetterleuchten aus Bläsersätzen, das Ergebnis bricht erfrischend herein wie ein fröhliches Sommergewitter.

Wer zwischen diesen Musikgewalten zur Geltung kommen will, muss schon ein besonders schönes Bild malen. Melvin Vines Harlem Jazz Machine gelingt das mit ihren routinierten Kompositionen allenfalls im Kleinformat. Die größere Leuchtkraft entwickelt Mario Rom’s Interzone. So dezent die drei jungen Österreicher auftreten, so aufregend sind ihre betörenden Melodien, ihre Dramaturgie, ihre Musikalität und ihr Witz. Ihr makelloses Zusammenspiel atmet eine Vitalität, die das Publikum um Zugaben betteln lässt, bis das Repertoire ausgeht. So fängt sie wahrscheinlich an, die Unsterblichkeit.

Im Glutofen − Samstag

Knapp 30 Grad und rauchig-heiße Grillschwaden in der Luft. Schweißperlen auf der Haut sind sicher am zweiten Tag des InntöneFestivals, für die Glut im Innern sorgen zwei feurig auftrumpfende Flamenco-Virtuosen, eine betörend sinnliche Stimmakrobatin und eine röhrend rockende Hammond-Orgel. Die erste Hitzewelle: das spanische Niño Josele Trio, warmtönend schillernde Flamenco-Gitarre (Niño Josele), kunstvoll umgarnender E-Bass (Julián Heredia) und eine Percussion (Guillermo Mc Gill), die in die Beine fährt. Die ganze Musik ist Tanz, Begegnung und Leidenschaft, von kraftvoller Erdigkeit getragen und mit einer klangschönen Strahlkraft, die weit in den Himmel reicht.

Die zweite Hitzewelle: Das Jazzmeia Horn Quartet, drei innig verbundene, großartig ausspielende Musiker (Kirk Lightsey, Wolfram Derschmidt und Dusan Novakov) und Jazzmeia Horn – Eyecatcher, Stimmwunder und hyperpräsente Frontfrau in einem. Sie juchzt, krakelt und säuselt, sie flirtet, bezirzt und pulvert. Das Ergebnis? Offene Münder, pochende Herzen, ein tobender, dampfender Stadel.

Da braucht es kühlende Luft und die weht klassisch solide drum herum: Das komplex verdichtende Nösig Puckl Quintet, überbordend an verschlungen modalen Improvisationen. Das Pablo Held Trio, suggestive Klangmaler und sphärische Zauberer. Oder das Paul Kogut/George Mraz Trio, das den Raum mit seinen verhaltenen Improvisationen meditativ herunterkühlt. Bis die dritte Hitzewelle hereinbricht und Raphael Wressnig mit Kollegen (Craig Handy, Alex Schultz, Johnny Vidacovich) die Bühne stürmt, die Hammond Orgel anwirft, Gas gibt und die kernig unverkrampfte Lust zurückbringt. 30 Grad? Hiergegen ein Klacks.

Anderswo − Sonntag

Freche Hofmusi im Innenhof und wummernder Bass-Sound im Stadel stimmen einen besonders vielseitigen wie auch verheißungsvollen Sonntag ein. Charlton Holmes stellt sich der großen Herausforderung eines Piano-Solos. Der blinde Singer-Songwriter Raul Midon packt, ebenfalls allein auf der Bühne, die Hunderte Zuhörer mit unmittelbarer Präsenz und leidenschaftlicher Musikalität. In multiplen Solos spielt Midon gleichzeitig Gitarre und Percussion oder imitiert nur mit seiner Stimme eine Trompete. Das tschechische Trio um den Bassisten George Mraz bringt erstmals Filmmusik auf die Stadelbühne. Gefühlvoll untermalt es einen eindringlichen Kurzfilm von Steve Lichtag. Auf die ergreifenden Bilder der mörderischen Jagd auf Wale folgen wohl eher zufällig Walgesänge: Denn so klingen anfangs die Hörner von Lorenz Raab, Erik Hegdal und Michel Godard. Herrlich schräg und mit geballter Power gibt sich das Bläsertrio, begleitet vom quirligen Schlagzeuger Patrice Héral. Daneben zaubern die vier grandiosen Musiker auch einlullende Soundspiele mit Loops.

Gab es also bereits einiges zum Staunen, übertrifft das Sun Ra Arkestra alle Erwartungen. In schrillbunten Glitzerkostümen, gekrönt von teils irrwitzigen Kopfbedeckungen, laufen die 14 Musiker ein. Ist’s ein Karnevalszug, eine Hollywoodshow oder Science-Fiction? Was da in europäischen Augen haarscharf an der Grenze zur Farce erscheint, will tatsächlich so etwas wie eine Raumpatrouille für zeitlosen Jazz sein, angeführt von Marshall Allen, dem als 90-jährig geltenden Nachfolger des Gründers und Avantgardjazzers Sun Ra. „Wir reisen durchs Weltall, von Planet zu Planet“, singt das Orchester am Ende einer außerirdischen Show aus kosmischen Klanggewittern, elektronischen Ufo-Sounds, einer entfesselten Tanzeinlage, vogelwildem Blues und kraftvollem Bigband-Swing.

Eingerahmt von spektakulären Bandprojekten, die Tradition, Gegenwart und Zukunft vereinen, und vom Himmel beschenkt mit glühenden Temperaturen, wurden die 29. Inntöne zu einem strahlenden Jahrgang. Dazu passte wunderbar, dass die Standing Ovations heuer an den Verantwortlichen für dieses einmalige Pfingstfest gingen: Paul Zauner.

Katrina Jordan, Gabriele Blachnik, Dorothea Walchshäusl